Extraetüde 05/2021 – Coronatig.

Immer, wenn es in einem Monat einen fünften Sonntag gibt, lädt Christiane zur Extraetüde. Die Wortspenden stammen von Etüdenerfinder Ludwig Zeidler und Ulrike mit ihrem Blog Blaupause7.

Dazu der leicht geänderte Disclaimer: 5 Begriffe in maximal 500 Wörtern.

Extraetüden 05.21 | 365tageasatzaday

Sie starrte mit offenen Augen gegen die Decke und wartete, dass der Schlaf sie davonzog ins Nichts. Es war mitten in der Nacht, als sie sich leise und vorsichtig aus dem Bett schob. Sie konnte nicht schlafen. Orange-farbene Punkte tanzten vor ihren Augen, so müde war sie. Zu lange hatte sie wieder einmal vor dem Fernseher geschlafen, tief und fest, eng an jenen gekuschelt, den sie liebte. Weichmütig – was für ein eigenartiges Wort – hatte sie ihm zugehört, wie er leise neben ihr atmete, nur um schließlich wieder nach unten zu gehen, das Licht anzuknipsen. Ob sie es später bereuen würde, dass sie die Nacht zum Tage machte? Es war egal. Sie hatte den nächsten Tag frei. Es war nicht wichtig, wann sie schließlich aufstand. Irgendwann am Tag würde die Müdigkeit zurückkehren, so wie sie jetzt hellwach war.

Eigenartig war das alles. Geänderte Schlafrhythmen. Geänderte Alltagsgewohnheiten. Soviel anders. Fast könnte das alles normal sein, anders normal, wenn da nicht irgendwo in ihr drin die Hoffnung wäre, es könnte ja wieder „normal wie früher“ werden. Als man sich noch umarmen durfte, selbst wenn man nicht im selben Haushalt wohnte. Als man miteinander tanzen und feiern durfte. Als man kein ungutes Gefühl haben musste, ob man sich oder andere vielleicht mit diesem Virus angesteckt haben könnte. Als es nicht der Höhepunkt des Tages war, einen Kuchen gebacken zu haben. Sondern als der Höhepunkt das Familienfest war, bei dem man den Kuchen gemeinsam verspeiste.

Das Haus war voll und doch seltsam leer, niemand kam zu Besuch, niemand ging lachend ein und aus. Überhaupt lachte nur selten jemand. Stumpf und leer schienen die Köpfe der Menschen geworden zu sein. Erschüttert eine ganze Gesellschaft, die wie im Schockzustand durch das ungewohnt-gewohnte Jetzt taumelte. Manche von ihnen bäumten sich dagegen auf, schrien Zetermordio, verleugneten das Virus, verweigerten von oben angeordnete Maßnahmen. Andere machten weiter mit ihrem jetzt eingeschränkten Leben, so gut es ging.

Das Virus kümmerte das alles nicht. Das Virus war. Es existierte. Es hatte weder Gefühle noch Absichten.

Sie waren zusammen, die Kinder, er und sie. Eine Familie und doch jeder für sich. Manchmal, wenn alles zu viel wurde, schwappten die zurückgehaltenen Gefühle hoch. Ohnmacht, Wut, Auflehnung, Frust, Depression. Entluden sich in Tränen und Geschrei. Mündeten in noch mehr Rückzug. Ein Kraftakt jedesmal, sich (und den/die anderen auch) wieder aufzurichten. Sich nicht fallen zu lassen in den Abgrund. Sich neue Lichtblicke zu suchen in diesem endlos scheinenden Tunnel.

Würde es irgendwann einen eigenen Ausdruck für diesen Zustand geben?

Sie kroch schließlich fröstelnd zurück ins Bett. Die dunkle tiefe Nacht war keine gute Zeit, um über derlei Dinge nachzudenken. Eng rückte sie an jenen heran, den sie liebte. Das wenigstens gab Halt und Trost. Manche hatten nicht einmal das. Er regte sich kurz, als sie mit jetzt kalten Füßen zurückkam, wachte aber nicht auf. Drehte sich im Schlaf zu ihr, schlang die Arme um sie, murmelte leise etwas Unverständliches. Sie starrte mit offenen Augen gegen die Decke und wartete, dass der Schlaf sie davonzog ins Nichts.

4 Gedanken zu “Extraetüde 05/2021 – Coronatig.

  1. Besser, als geträumt zu haben, der Liebste wäre tot, im Halbschlaf zu denken, es war ja nur ein Albtraum und im Wachzustand zu realisieren, dass der Albtraum schon jahrelang Realität ist. Trotzdem geht das Leben weiter bis zuletzt, und die Kuchen schmecken immer noch lecker, und falls wir auf Dauer maskiert herumrennen müssen, dann ist das halt so. Dann werden die Masken optimiert werden, in ihrer Wirkung, in den Nebenwirkungen, im Design, und vielleicht werden wie so selbstverständlich wie Sicherheitsgurte. Um die gab es seinerzeit auch große Freiheitsdiskussionen.
    Bleibt alle gesund an Leib und Seele, auch wenn es schwerfällt!

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  2. Pingback: Schreibeinladung für die Textwochen 06.07.21 | Wortspende von Wortman | Irgendwas ist immer

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