abc-Etüde 36+37/2019 – Das Unbekannte unter uns.

Die erste Schreibeinladung von Christiane nach der Sommerpause beschert uns eine Wortspende von Ludwig, seines Zeichen Etüdenerfinder, aber derzeit Nicht-Bloggender, die es ganz schön in sich hat. Es geht dabei um Verantwortung beim Schreiben im Internet und was man mit seinen Geschichten auslösen kann. Ich gehe darauf jetzt hier und heute nicht näher ein (ich muss noch ein wenig nachdenken, dann schreibe ich vielleicht einen eigenen Beitrag dazu), lest die Kommentare unter der Schreibeinladung, wenn euch das interessiert.

Abgesehen davon sind wir aber immer noch Etüdenschreiber und haben uns an die Regel zu halten: 3 Begriffe in maximal drei Wörtern.

abc.etüden 2019 36+37 | 365tageasatzaday

Abgestoßen hörte sie zu, als sie gemeinsam im Pausenraum saßen. Manche tranken ihren Kaffee, andere aßen mitgebrachte Jausenbrote, wieder andere gaben sich dem Genuss einer Zigarette hin, ungeachtet der bösen Blicke, die ihnen die Essenden zuwarfen.

Normalerweise war sie selten hier in diesem muffigen Pausenraum, in dem die Luft zum Schneiden war und einem der Sauerstoffmangel zusetzte, dass man leicht Halluzinationen bekommen könnte. Doch heute standen alle unter Schock, wollten beisammen sein.

Einer fehlte. Eine Verzweiflungstat sei es gewesen, meinten einige, die sich als selbsternannte Psychologen und Experten in den Fokus der Aufmerksamkeit stellen wollten. Sie wussten immer genau, warum es soweit kommen konnte. Mit dieser Meinung hielten sie auch nicht hinterm Berg.

Angewidert sah sie ihnen zu, wie sie ihn jetzt so genau gekannt haben wollten, den sie früher kaum eines Blickes gewürdigt hatten. Sie beobachtete, wie sie sich aufplusterten. Nach Aufmerksamkeit gierten. Mit dem Finger zeigten. Wie sie sich am Elend und Leid anderer aufgeilten und sagten: „Seht nur, wir sind ganz anders. Wir sind nicht so. Wir sind die Guten. Wir würden so etwas nie tun!“

Dabei waren ihre Gedanken und auch Gefühle durchaus ambivalent. Nein, sie traute sich nicht sicher zu sagen, was sie selbst getan hätte. Sie konnte das aufreizende Gruseln an Grausigkeiten, dass Menschen die Köpfe zusammenstecken ließ, durchaus nachvollziehen: „Hast du schon gehört? Der X hat das und das ….! Wahnsinn, oder?“

Sie stand auf und verließ den Pausenraum, zog sich die Jacke an und den Kragen weit über die Ohren hinauf und ging in den kalten nassen Tag hinaus. Sie wollte allein sein, hatte genug von den sensationsgierigen Leuten da drin. Eine schmierige Tageszeitung mit ihm auf der Titelseite lag zerknautscht auf der Straße, sie achtete nicht darauf. Lief vorbei.

Sie hatte ihn gemocht. Aber niemand konnte in einen anderen hineinsehen.


Bei Christiane lese ich (und daran denkt man beim locker leichten Dahinschreiben kleiner Geschichten eben oft nicht), dass es Menschen gibt, für die „Verzweiflungstat“ nicht nur eine literarisch-schreibtechnische Herausforderung darstellt, sondern die damit Gewalt und/oder Depressionen assoziieren – die sie erlebt haben oder gerade erleben.

Daher hier für alle Fälle ein paar Anlaufstellen in Österreich:
Die Telefonseelsorge,
Hilfe speziell für Kinder und Jugendliche,
die Frauenhelpline,
der Männernotruf

 

16 Gedanken zu “abc-Etüde 36+37/2019 – Das Unbekannte unter uns.

  1. Ja, es gibt sie immer, die Jetzt-will-ICH-euch-mal-was-erzählen-Kritiker, die sonst gebuckelt und geschleimt haben, die in solchen Situationen meinen, sie müssten ganz groß herauskommen und allen anderen die Augen öffnen, wie der/die Verstorbene/Verunglückte/Erwischte tatsächlich war.
    Scheint oftmals wohl irgendwie an unserer Erziehung oder an dem persönlichen Druck zu liegen, dem viele tagtäglich in Familie und Job ausgesetzt sind.
    Du hast eine solche bedrückende Situation sehr schön eingefangen und eindringlich beschrieben.

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  2. Sehr gut beobachtet erzählt, dieses einfach den Mund nicht halten können, nicht aushalten können steckt vielleicht oft dahinter.
    Ja, mich beschäftigt die von dir angesprochene Diskussion auch und ich bin auf deine Gedanken gespannt.
    Nun sind Trigger leider so vielfältig wie die Menschen selbst, mich wundert bei meinem traumatisierten Kind immer wieder WAS sie plötzlich abstürzen lässt und was sie an sich abprallen lassen kann.

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  3. Liebe Myriade, es gibt auch passiv-aggressive Gewalt (siehe z.B. aktuelle Ausgabe der PSYCHOLOGIE HEUTE 10/2019). Ich könnte mir vorstellen, dass viele Frauen und sonstige körperlich unterlegene Menschen eher passiv-aggressiv sind. Aber nicht alle Frauen sind allen Männern körperlich unterlegen, daher wenden etliche sicher auch körperliche Gewalt an, wenn sie dazu in der Lage sind.

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  4. Pingback: Schreibeinladung für die Textwochen 38.39.19 | Wortspende von Make a choice Alice | Irgendwas ist immer

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