Virtuelle Schreibwerkstatt – Tag 9: Lose verbundene Texte.

Es geht weiter mit Tag 9 – Lose verbundene Texte von Jutta Reichelt. Juttas Schreibanregungen sind alle gleichermaßen inspirierend und ansprechend, oft trage ich eine Idee tagelang mit mir herum und finde dann keine Zeit oder vor allem keine Muße, um sie aufzuschreiben, weiter zu entwickeln, mich ordentlich mit ihr zu beschäftigen. Doch diese hier, die zündete fast unmittelbar

Die heutige („heute“ ist gut, ich hinke meilenweit hinterher!) Aufgabe gefällt mir sehr. Ich mag es ja generell sehr, wenn ich mich immer und immer wieder um Details drehe, wie bei einem Tanz, wo man schließlich wieder zu einem Punkt zurückkehrt.

An jenem Tag regnete es und die Straßen glitzerten nass. Sie stand unter ihrem Schirm und wartete, dass die Ampel auf Grün umschaltete, wollte so schnell wie möglich nach Hause, auch wenn sie ansonsten den Regen liebte. Nur heute hatte sie ihren Kopf woanders und beachtete die fallenden Tropfen kaum. Sie musste noch aufräumen und vorbereiten, immerhin würde er sie besuchen. Zum ersten Mal überhaupt, seit sie sich kannten, und das war noch nicht so lange her. Nur kurz blickte sie zum Himmel, hoffte, es würde aufklaren, vielleicht könnten sie ja auch einen kurzen Spaziergang machen. Dann könnte sie ihm ihre Wohngegend zeigen. Wer weiß, wie sich der Abend entwickelte. Ihr Blick streifte ein kleines tapferes Gänseblümchen an der Gehsteigkante und sie musste lächeln.

Einer dieser Tropfen prallte auf den Asphalt, traf sich mit anderen Tropfen, bildete ein Rinnsal, suchte sich einen Weg auf dem künstlichen schwarzen Bodenbelag, nutzte jedes noch so kleine Gefälle und sammelte sich schließlich in einem kleinen Riss im Boden. Dort, wo sich bereits seit geraumer Zeit ein kleines Pflänzchen mühsam an die Oberfläche gekämpft hatte. Der Same hatte wahrlich keinen optimalen Platz gefunden, aber das war dem Gänseblümchen egal. Es grub seine Wurzeln in den Untergrund, schob kleine runde Blätter durch den schmalen Spalt der Sonne entgegen und bildete eine Knospe. Dann war es heiß geworden und das Gänseblümchen drohte zu verdorren. Das Aufblühen der Knospe kam zum Stillstand. Es war wie ein Segen, als die dunklen Wogen aufzogen und erste dicke Tropfen hart zu Boden fielen. Gierig saugte das Gänseblümchen die Feuchtigkeit auf und wuchs und wuchs und wuchs. Nur um mit den ersten Sonnenstrahlen ein kleine Blüte zu entfalten und der Welt zu zeigen, dass alles möglich war.

Nervosität machte sich breit. Wie konnte man so alt werden und immer noch nervös sein? Er kannte das doch alles längst. Wusste, wie das lief. Wusste er es wirklich? Manchmal lachten sie beide, wenn sie sich eingestanden, dass sie beide aufgeregt waren. Verliebt wie 17jährige, obwohl man ihr Alter eher verdreifachen konnte. Die Liebe scheint kein Altern zu kennen. Heute würde er sie in ihrer Wohnung besuchen. Was er wohl mitnehmen sollte? Gerade hatte der Regen aufgehört, es klarte auf, die Sonne wärmte bereits wieder die Straßen, nur die Luft roch noch wie frisch gewaschen. Die Flasche Wein in seinem Rucksack kam ihm banal vor, er suchte nach etwas Besonderem. Seine Blicke glitten an Schaufenstern vorbei, nichts schien ihm geeignet. Da stolperte er über den Gehsteigrand, er stürzte und schürfte sich das Knie auf, riss dabei ein Loch in die Hose und kippte vornüber mit dem Gesicht auf den Asphalt. Passanten hielten erschrocken inne, fragten, ob er Hilfe bräuchte. Er aber war mit der Nase direkt in einem Busch runder Blättchen gelandet und hatte ein unscharfes weißes Blümchen knapp vor den Augen. Als er sich mühsam hochrappelte und allen versicherte, dass er in Ordnung wäre, die Schrammen nur leicht und nichts gebrochen, griff er nach dem Gänseblümchen und hob es sachte mitsamt Blättern und Wurzeln aus dem Spalt im Belag. Was für ein Bild das wohl abgeben würde? Er schmutzig mit zerrissener Hose und einem Gänseblümchen in der hohlen Hand. Das war ein perfektes Geschenk für seine neue Liebe. Genau so etwas mochte sie und das Gänseblümchen würde mit Sicherheit einen Platz auf ihrem Balkon finden.