Dicke Nebelschwaden lagen über dem See. Man sah kaum die Wasseroberfläche. Nur ganz in der Nähe konnte man die Anlegestelle für die Fischerboote sehen. Dabei war Clara heute nur hierher gekommen, um den See zu sehen. Hatte gehofft, dass der Nebel sich bereits ein wenig gehoben hätte. Nur eine dicke graue Suppe. Kein See. Nun, auch egal. Es war so ruhig hier. Das allein genügte ihr. Sie wollte nachdenken. Wollte weg von anderen Menschen. Sie musste nachdenken und da konnte sie keinen gebrauchen, der sie dauernd fragte, was denn los sei. Warum sie so still wäre und dass sie doch mal wieder lachen solle.
Clara dachte an Sam. Wie lange waren sie nun schon befreundet? Sie wusste es noch genau, als sie sich damals im Schachclub getroffen hatten. Schach! Es gab kaum etwas Spießigeres. Sam war immer da gewesen. Irgendwie. Und irgendwie auch nicht. Sie wusste gar nicht mehr genau, was sie wollte. Sie hatte dieses Gefühl nie so recht einordnen können.
Die Jahre waren vergangen. Clara hatte ihren Mann kennen gelernt. Und trotzdem den Kontakt zu Sam immer aufrecht erhalten. Es war ihr wichtig, hatte sie stets behauptet. Er nutzt dich nur aus, sagten ihre Freunde. Ich mag ihn, hatte sie gesagt. Ich kann ihn nicht ausstehen, sagte ihr Mann, er lebt in den Tag hinein und leistet keine ordentliche Arbeit. Solange mir das wichtig ist, muss nicht mehr von ihm zurückkommen, hatte Clara Sam verteidigt. Du verschwendest deine Zuneigung, hatten sich andere gewundert. Das ist doch meine Entscheidung, hatte Clara stur beharrt. Er weiß gar nicht zu schätzen, was du da tust, meinten sie und ließen es schließlich bleiben.
Clara wusste heute nicht mehr, wann es begonnen hatte zu enden. Wann sich die ersten Wolken zeigten und wann die ersten dünnen Nebelschwaden entlang ihres Horizontes auftauchten. Sie hatte es nie sehen wollen. Sie redete sich immer ein, dass Sam einer der wichtigsten Menschen war. Aber wenn sie dann all die Mails, die sie sich jemals geschrieben hatten, noch einmal durchlas, dann waren von Sam bestenfalls Fünfzeiler gekommen und von ihr selber lange Briefe. Wenn sie heute ehrlich war, dann war Sam immer gut darin, sich rar zu machen und sie, Clara, hatte ihr Leben reflektiert. Clara hatte sich von Sam kleine Häppchen vorwerfen lassen, glaubte sie heute ernüchtert zu wissen.
Warum sie heute an den See gekommen war, wusste sie nicht. Als hätte sie eine Stimme gerufen. Irgendein innerer Drang. Was wollte sie eigentlich? Daheim wartete ihre Familie. Die wirkliche Familie. Nicht nur ein Traumgespinst um Sam, der doch nur wie ein Schatten irgendwo in ihrem Bewusstsein war. Dauernd da und niemals richtig präsent.
Clara stand fröstelnd am Ufer und sah in den Nebel über dem See. Sah dorthin, wo der See eigentlich sein sollte. Der See war weg. Irgendwie. Sam war auch weg. Auch irgendwie. Sie zog die lange Strickweste enger um sich. Sam war eine Illusion. Ein Wunschtraum. Jemand, mit dem man den Kopf in die Wolken stecken konnte. Ein Tagtraum, in den sie flüchten konnte, wenn der Alltag zu herausfordernd wurde. Clara aber wollte mit beiden Beinen fest im Leben stehen. Ihr war klar, dass man zum Überleben gute Wurzeln brauchte. Dass sie selbst diese Wurzeln brauchte. Sam und das Wolkenschloss waren nur Gedanken, um ihren unsteten Geist zu beschäftigen.
Der Nebel war dichter geworden. Draußen am See war er dick und zäh. Fast als hätte er sich an einer Stelle zu einem schwarzen Schatten verdichtet. Der Schatten nahm Konturen an und kam auf sie zu. Sam! Sam?
Sam schritt über das Wasser auf sie zu. Kleine Tropfen lösten sich aus der Wasseroberfläche und spritzen hinter seinen Füssen hoch, wenn er sie Schritt für Schritt vom Wasser hob. Seine Hand war zu ihr ausgestreckt. Komm! schien er zu sagen. Clara zögerte. Was machte er hier? Ausgerechnet jetzt, wo sie auch hier war. Das konnte nicht sein! Sie machte einen Schritt auf den See zu und verharrte wieder. Nein, das war nicht wirklich.
Sam kam immer noch näher. Schritt für Schritt. Und schien sich doch keinen Millimeter zu bewegen. Wenn sie jetzt zu ihm ging, würde sie niemals wieder zurückkehren. Clara schüttelte irritiert den Kopf. Woher kam diese Gewissheit? Wieder setzte sie an, hob das andere Bein, wollte schon losrennen. Warum noch lange nachdenken? Das musste doch ein Zeichen sein, wenn er … und sie … beide … am See … heute.
Ihre Augen schmerzten vom Starren. Aus dem Nebel hörte sie ein Geräusch. Platsch! Platsch! Platsch! Langsam. Rhythmisch. Genau im Takt mit seinen Schritten, wie sie sich vom Wasser lösten.
Das Geräusch des kleinen Bootes riss sie jäh aus ihren Gedanken. Brachte sie schlagartig in die Realität zurück. Ein Fischer stand aufrecht in seinem Boot und stakste langsam und bedächtig zum Landungssteg. Er schaute überrascht zu ihr her, fragte, ob alles in Ordnung sei. Ja, natürlich! Was soll sein? Sein plötzliches Auftauchen nahm der Situation ihren Zauber. Seine Stimme hallte unnatürlich über den See. Ihre eigene Stimme schluckte der Nebel.
Clara blickte an sich hinab und merkte, dass sie bis zu den Hüften im Wasser stand. Jäh schoss die Kälte als stechender Schmerz durch ihren Körper. Was war das gerade gewesen? Sam. Wo war Sam? Aber von ihm war keine Spur mehr zu sehen. Er war weg. Wieder einmal. Clara straffte die Schultern. Der Fischer in seinem Boot schien nicht zu wissen, ob wirklich alles in Ordnung war. Sie winkte hinüber und versuchte sich in einem beruhigenden Lächeln
Diesmal würde sie es tun. Musste es tun. Loslassen. Es war Zeit. Das Wolkenschloss nahm beängstigende Züge an. Sam war wie ein Retter aus dem Nebel gekommen und beinahe sofort wieder darin verschwunden. Clara schloss das schmiedeeiserne Tor des Wolkenschlosses hinter sich. Sie wollte hier nicht mehr sein. Als sie sich vom See abwandte und zurück ging, brach die Sonne mit ersten zaghaften Strahlen durch die Nebelwand. Das Wasser rann ihr die Beine hinunter und quatschte in ihren Schuhen. Sie würde nach Hause gehen und heiß duschen. Danach die nassen Sachen in die Waschmaschine stecken. Keiner musste davon erfahren. Sam und den Traum von einer Freundschaft, die alles überwinden und aushalten kann, ließ sie am See zurück.
Es war vorbei.
Der Schreibkick ist eine Idee von Sabrina.
Diesmal waren dabei:
Eva
Sabrina
Rina P.
Corly
Surf Your Inspiration
Das Thema für den 1.12.2017 lautet: Stille Straße
Außerdem gibt es ein Weihnachtsspecial!
Das Thema für den 24.12.2017 lautet: Unter dem Weihnachtsbaum
Tolle Idee! Und auch noch ein passendes Foto ….
LikeGefällt 1 Person
Es hat sich so wunderbar zusammengefügt. :-)
LikeLike
Danke für diese neblige Geschichte. Ja, Freundschaft / oder mehr … Alles endet. Es ist so.
Ob Rudi Sattig auch in Begleitung über den See ging? Fiel mir gleich beim Lesen ein …
LikeGefällt 1 Person
Vom Sattig Rudi kenne ich nur den Namen …
LikeLike
Pingback: Schreibkick: Nebelschwaden | Evas Geschichten
Hallo liebe Veronika,
wow, dein Text hat mich sehr berührt. Ja, so ist es wohl. Alles endet und irgendwann wird es Zeit, loszulassen.. Du hast ein schönes Bild dafür gefunden … und fast wäre es zu spät gewesen.
Liebe Grüße,
Sabi <3
LikeGefällt 1 Person
Das mit dem Loslassen ist immer wieder eines meiner Themen. Bestenfalls ist es ein loslassen WOLLEN, schlimmstenfalls ein loslassen MÜSSEN.
LikeLike
Pingback: Schreibkicks – Nebelschwaden – Die Wächterin – Geschichtszauberei
Ein tiefer Einblick in so manche Freundschaft – leider, leider sind die meisten immer eher einseitig – ein ganz toller gefühlvoller Beitrag.
Liebe Grüsse
LikeGefällt 1 Person
Ich habe auch den Eindruck, dass viele Freundschaften einseitig sind. Aber gleichzeitig bin ich nicht sicher, ob das nicht wieder nur meine eigene subjektive Sicht ist. Vielleicht sollte man einfach machen und nicht so viel darüber nachdenken. :-)
LikeLike
Tja, da hast du wahrscheinlich recht. Aber irgendwann wundert man sich und das ist meistens das Ende.
LikeGefällt 1 Person
Pingback: Schreibkicks – Dezember – Stille Strasse der Einsamkeit – Geschichtszauberei