Story-Samstag: Das Fenster

 

Ich schaue aus dem Fenster. Starr gerade hinaus. Wenigstens sieht so niemand meine Tränen, die mir übers Gesicht rinnen. „Heulsuse“ würden sie mich wieder nennen. Sie! Das sind meine Schwestern und ihre Freundinnen aus der Nachbarschaft. Bei jeder kleinsten Gelegenheit hacken sie auf mir herum. Dass ich ein Idiot bin. Dass ich im Weg bin. Dass ich das lästige Anhängsel bin. Zu nichts zu gebrauchen. Mit dem Terror ist es jetzt aus. Ich habe sie gerade auf dem Mond ausgesetzt. Das ging quasi nebenher beim Rückflug zur Erde. Ein bisschen traurig bin ich, weil meine Eltern das sicher anders aufnehmen werden als ich.

Ich bin das jüngste Kind von vier. Ich bin der Unfall. Mich wollten sie eigentlich gar nicht mehr haben. Und deshalb bekam ich auch das kleinste Zimmer an der Nordseite unseres Hauses. Das Zimmer, das früher einmal das Nähzimmer unserer Mutter war. Sie hat es für mich geräumt. Hat es räumen müssen, damit ich auch ein wenig Privatsphäre habe. Das sagt sie zwar nie, aber ich sehe es in ihren Augen. Immer wieder. Glaube ich zumindest.

Mein Fenster geht in den Hof hinaus. Dort wo meine Schwestern ihre doofen Hüpf- und Ballspiele veranstalten. Bei denen sie mich nie mitmachen lassen. Ich will das auch gar nicht. Nicht, dass ich da falsch verstanden werde.

Zehn bin ich jetzt. Zehn lange Jahre lebe ich schon in dieser unsäglichen Familie, wo die Frauen in der Übermacht sind. Der ewige Zickenterror unter meinen Schwestern. Wie sie mich immer herablassend behandeln, weil ich ja nur der Nachzügler bin. Oder eben der Unfall. Wo mein Vater sei, fragt ihr? Der arbeitet und arbeitet und arbeitet. Abends kommt er müde heim, hat kaum noch Energie für irgendwas.

Ich habe vor einiger Zeit zu malen begonnen. Nichts Großartiges. Immer nur Skizzen auf Schmierzettel. Manchmal kleine Aquarelle mit den Wasserfarben. Es entspannt mich und ich mag die bunten Farben und was man damit alles machen kann. Außerdem lenkt es mich von all den Verrückten hier ab. Farben sind in diesem Haus reichlich vorhanden. Glaubt mir das! Ebenso wie Bastelkram und Glitterzeugs. Mein Zeichenlehrer meint, ich wäre talentiert. Ich bin da nicht so sicher. Ist mir aber auch egal, solange es mir Spaß macht.

Meine letzte Arbeit nahm jedenfalls keinen guten Anfang. Meine Mutter bekam erst einmal einen Anfall, als sie davon hörte. Weil meine Schwestern gepetzt hatten, dass ich – der Freak – fast alle Acrylfarben aufgebraucht hätte für irgendwelche Schmierereien an der Wand. Sie haben mich erwischt, wie ich gerade die Grundierung malte. Doch dann hat sie das fertige Bild gesehen. Das zweite Fenster, das ich in meinem Zimmer über mein Bett gemalt habe. Ich meine ein falsches Fenster neben das richtige. Es sieht aus wie die Ansicht aus einem Raumschiff auf die Erde. Und als stünde mein Bett in einem Raumschiff. Sie stand da und … schwieg. Ich hatte schon Angst, sie würde wieder losbrüllen wie vorhin unten in der Küche. Aber sie stand nur da und schwieg und hatte diese großen verwunderten Augen. Wahrscheinlich sagte sie nichts, weil sie die Farbflecken auf dem Bett noch nicht gesehen hatte, wo die Farbe vom Pinsel getropft war.

Doch dann sank sie auf meinen Drehsessel und schaute immer noch. Ich hörte eine meiner Schwestern von unten nach ihr rufen. Genervt und ungeduldig schrie sie immer wieder „Mama!“. Aber meine Mutter hob nur abwehrend die Hand und machte eine Geste, ich solle still sein.

Irgendwann fand meine Mutter ihre Stimme wieder.

„Gibt es da noch mehr davon?“

Ich griff unter mein Bett und holte eine große Schachtel hervor. Darin verwahre ich alle Skizzen und Zettel. Schmeiße sie einfach so hinein, damit sie nicht offen herumliegen. Die Blätter stapeln sich kreuz und quer, unordentlich, mit umgebogenen Ecken und Knicken.

Still sah meine Mutter sich Blatt um Blatt an. Ich hörte nur ihr Atmen und das trockenen Rascheln von Papier. Ich war total verunsichert, warum sie nichts sagte. War sie von mir enttäuscht, weil ich zeichne und male? Würde sie in mir jetzt auch den Freak sehen? Schließlich ließ sie die Blätter sinken und sah mich an: „Ich hatte keine Ahnung, dass du das kannst. Mir kam nie in den Sinn, warum dein Zeichenlehrer immer von deiner Begabung faselte.“

Dann stand sie auf und nahm mich in den Arm. Drückte mich lange und fest an sich. Ich umarmte sie und hielt sie fest. Nur ein Mal gehörte unsere Mutter ganz mir. Ich wollte sie nie mehr loslassen. Schon wieder flossen die Tränen. „Heulsuse“ würden sie sagen, wenn sie mich so sähen …

Ich will jetzt nicht behaupten, dass damit alles gut wurde. Nein, das nicht. Aber es wurde besser. Vielleicht auch deshalb, weil ich mich nicht mehr so ungewollt und ungeliebt fühlte. Manchmal kommt meine Mutter in mein Zimmer und schaut sich meine neuesten Zeichnungen an. Dann reden wir. Übers Malen. Über die Schule. Über mich und uns und meine Träume. Endlich ist dieses grausame Gefühl weg, dass ich nur der lästige Unfall bin. Endlich sieht mich meine Mutter.

Dann blicke ich aus dem Fenster meines Raumschiffs auf die Erde und denke mir nur manchmal, dass ich meine Schwestern beim Vorbeifliegen auf dem Mond aussetzen könnte. Weil sie trotzdem immer noch unverändert auf mir herumhacken und unausstehlich sind.

Window von Dmitry Bogoljubov
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